Der blonde Eckbert
von Ludwig Tieck
In einer Gegend des Harzes wohnte ein Ritter, den man gewöhnlich nur
den blonden Eckbert nannte. Er war ohngefähr vierzig Jahr alt, kaum
von mittler Größe, und kurze hellblonde Haare lagen schlicht
und dicht an seinem blassen eingefallenen Gesichte. Er lebte sehr ruhig
für sich und war niemals in den Fehden seiner Nachbarn verwickelt,
auch sah man ihn nur selten außerhalb den Ringmauern seines kleinen
Schlosses. Sein Weib liebte die Einsamkeit ebensosehr, und beide schienen
sich von Herzen zu lieben, nur klagten sie gewöhnlich darüber,
daß der Himmel ihre Ehe mit keinen Kindern segnen wolle.
Nur selten wurde Eckbert von Gästen besucht, und wenn es auch geschah,
so wurde ihretwegen fast nichts in dem gewöhnlichen Gange des Lebens
geändert, die Mäßigkeit wohnte dort, und die Sparsamkeit
selbst schien alles anzuordnen. Eckbert war alsdann heiter und aufgeräumt,
nur wenn er allein war, bemerkte man an ihm eine gewisse Verschlossenheit,
eine stille zurückhaltende Melancholie.
Niemand kam so häufig auf die Burg als Philipp Walther, ein Mann, dem
sich Eckbert angeschlossen hatte, weil er an diesem ohngefähr dieselbe
Art zu denken fand, der auch er am meisten zugetan war. Dieser wohnte eigentlich
in Franken, hielt sich aber oft über ein Jahr in der Nähe von
Eckberts Burg auf, sammelte Kräuter und Steine, und beschäftigte
sich damit, sie in Ordnung zu bringen, er lebte von einem kleinen Vermögen
und war von niemand abhängig. Eckbert begleitete ihn oft auf seinen
einsamen Spaziergängen, und mit jedem Jahre entspann sich zwischen
ihnen eine innigere Freundschaft.
Es gibt Stunden, in denen es den Menschen ängstigt, wenn er vor seinem
Freunde ein Geheimnis haben soll, was er bis dahin oft mit vieler Sorgfalt
verborgen hat, die Seele fühlt dann einen unwiderstehlichen Trieb,
sich ganz mitzuteilen, dem Freunde auch das Innerste aufzuschließen,
damit er um so mehr unser Freund werde. In diesen Augenblicken geben sich
die zarten Seelen einander zu erkennen, und zuweilen geschieht es wohl auch,
daß einer vor der Bekanntschaft des andern zurückschreckt.
Es war schon im Herbst, als Eckbert an einem neblichten Abend mit seinem
Freunde und seinem Weibe Bertha um das Feuer eines Kamines saß. Die
Flamme warf einen hellen Schein durch das Gemach und spielte oben an der
Decke, die Nacht sah schwarz zu den Fenstern herein, und die Bäume
draußen schüttelten sich vor nasser Kälte. Walther klagte
über den weiten Rückweg, den er habe, und Eckbert schlug ihm vor
bei ihm zu bleiben, die halbe Nacht unter traulichen Gesprächen hinzubringen,
und dann in einem Gemache des Hauses bis am Morgen zu schlafen. Walther
ging den Vorschlag ein, und nun ward Wein und die Abendmahlzeit hereingebracht,
das Feuer durch Holz vermehrt, und das Gespräch der Freunde heitrer
und vertraulicher.
Als das Abendessen abgetragen war, und sich die Knechte wieder entfernt
hatten, nahm Eckbert die Hand Walthers und sagte: "Freund, Ihr solltet
Euch einmal von meiner Frau die Geschichte ihrer Jugend erzählen lassen,
die seltsam genug ist. " -"Gern", sagte Walther, und man setzte
sich wieder um den Kamin.
Es war jetzt gerade Mitternacht, der Mond sah abwechselnd durch die vorüberflatternden
Wolken. "Ihr müßt mich nicht für zudringlich halten",
fing Bertha an, "mein Mann sagt, daß Ihr so edel denkt, daß
es unrecht sei, Euch etwas zu verhehlen. Nur haltet meine Erzählung
für kein Märchen, so sonderbar sie auch klingen mag.
Ich bin in einem Dorfe geboren, mein Vater war ein armer Hirte. Die Haushaltung
bei meinen Eltern war nicht zum besten bestellt, sie wußten sehr oft
nicht, wo sie das Brot hernehmen sollten. Was mich aber noch weit mehr jammerte,
war, daß mein Vater und meine Mutter sich oft über ihre Armut
entzweiten, und einer dem andern dann bittere Vorwürfe machte. Sonst
hört ich beständig von mir, daß ich ein einfältiges
dummes Kind sei, das nicht das unbedeutendste Geschäft auszurichten
wisse, und wirklich war ich äußerst ungeschickt und unbeholfen,
ich ließ alles aus den Händen fallen, ich lernte weder nähen
noch spinnen, ich konnte nichts in der Wirtschaft helfen, nur die Not meiner
Eltern verstand ich sehr gut. Oft saß ich dann im Winkel und füllte
meine Vorstellungen damit an, wie ich ihnen helfen wollte, wenn ich plötzlich reich würde,
wie ich sie mit Gold und Silber überschütten und mich an ihrem
Erstaunen laben möchte, dann sah ich Geister heraufschweben, die mir
unterirdische Schätze entdeckten, oder mir kleine Kiesel gaben, die
sich in Edelsteine verwandelten, kurz, die wunderbarsten Phantasien beschäftigten
mich, und wenn ich nun aufstehn mußte, um irgend etwas zu helfen,
oder zu tragen, so zeigte ich mich noch viel ungeschickter, weil mir der
Kopf von allen den seltsamen Vorstellungen schwindelte.
Mein Vater war immer sehr ergrimmt auf mich, daß ich eine so ganz
unnütze Last des Hauswesens sei, er behandelte mich daher oft ziemlich
grausam, und es war selten, daß ich ein freundliches Wort von ihm
vernahm. So war ich ungefähr acht Jahr alt geworden, und es wurden
nun ernstliche Anstalten gemacht, daß ich etwas tun, oder lernen sollte.
Mein Vater glaubte, es wäre nur Eigensinn oder Trägheit von mir,
um meine Tage in Müßiggang hinzubringen, genug, er setzte mir
mit Drohungen unbeschreiblich zu, da diese aber doch nichts fruchteten,
züchtigte er mich auf die grausamste Art, indem er sagte, daß
diese Strafe mit jedem Tage wiederkehren sollte, weil ich doch nur ein unnützes
Geschöpf sei.
Die ganze Nacht hindurch weint ich herzlich, ich fühlte mich so außerordentlich
verlassen, ich hatte ein solches Mitleid mit mir selber, daß ich zu
sterben wünschte. Ich fürchtete den Anbruch des Tages, ich wußte
durchaus nicht, was ich anfangen sollte, ich wünschte mir alle mögliche
Geschicklichkeit und konnte gar nicht begreifen, warum ich einfältiger
sei, als die übrigen Kinder meiner Bekanntschaft. Ich war der Verzweiflung
nahe.
Als der Tag graute, stand ich auf und eröffnete, fast ohne daß
ich es wußte, die Tür unsrer kleinen Hütte. Ich stand auf
dem freien Felde, bald darauf war ich in einem Walde, in den der Tag kaum
noch hineinblickte. Ich lief immerfort, ohne mich umzusehn, ich fühlte
keine Müdigkeit, denn ich glaubte immer, mein Vater würde mich
noch wieder einholen, und, durch meine Flucht gereizt, mich noch grausamer
behandeln.
Als ich aus dem Walde wieder heraustrat, stand die Sonne schon ziemlich
hoch, ich sah jetzt etwas Dunkles vor mir liegen, welches ein dichter Nebel
bedeckte. Bald mußte ich über Hügel klettern, bald durch
einen zwischen Felsen gewundenen Weg gehn, und ich erriet nun, daß
ich mich wohl in dem benachbarten Gebirge befinden müsse, worüber
ich anfing mich in der Einsamkeit zu fürchten. Denn ich hatte in der
Ebene noch keine Berge gesehn, und das bloße Wort Gebirge, wenn ich
davon hatte reden hören, war meinem kindischen Ohr ein fürchterlicher
Ton gewesen. Ich hatte nicht das Herz zurückzugehn, meine Angst trieb
mich vorwärts; oft sah ich mich erschrocken um, wenn der Wind über
mir weg durch die Bäume fuhr, oder ein ferner Holzschlag weit durch
den stillen Morgen hintönte. Als mir Köhler und Bergleute endlich
begegneten und ich eine fremde Aussprache hörte, wäre ich vor
Entsetzen fast in Ohnmacht gesunken.
Ich kam durch mehrere Dörfer und bettelte, weil ich jetzt Hunger und
Durst empfand, ich half mir so ziemlich mit meinen Antworten durch, wenn
ich gefragt wurde. So war ich ohngefähr vier Tage fortgewandert, als
ich auf einen kleinen Fußsteig geriet, der mich von der großen
Straße immer mehr entfernte. Die Felsen um mich her gewannen jetzt
eine andre, weit seltsamere Gestalt. Es waren Klippen, so aufeinandergepackt,
daß es das Ansehn hatte, als wenn sie der erste Windstoß durcheinanderwerfen
würde. Ich wußte nicht, ob ich weitergehn sollte. Ich hatte des
Nachts immer im Walde geschlafen, denn es war gerade zur schönsten
Jahrszeit, oder in abgelegenen Schäferhütten; hier traf ich aber
gar keine menschliche Wohnung, und konnte auch nicht vermuten, in dieser
Wildnis auf eine zu stoßen; die Felsen wurden immer furchtbarer, ich
mußte oft dicht an schwindlichten Abgründen vorbeigehn, und endlich
hörte sogar der Weg unter meinen Füßen auf. Ich war ganz
trostlos, ich weinte und schrie, und in den Felsentälern hallte meine
Stimme auf eine schreckliche Art zurück. Nun brach die Nacht herein,
und ich suchte mir eine Moosstelle aus, um dort zu ruhn. Ich konnte nicht
schlafen; in der Nacht hörte ich die seltsamsten Töne, bald hielt
ich es für wilde Tiere, bald für den Wind, der durch die Felsen
klage, bald für fremde Vögel. Ich betete, und ich schlief nur spät
gegen Morgen ein.
Ich erwachte, als mir der Tag ins Gesicht schien. Vor mir war ein steiler
Felsen, ich kletterte in der Hoffnung hinauf, von dort den Ausgang aus der
Wildnis zu entdecken, und vielleicht Wohnungen oder Menschen gewahr zu werden.
Als ich aber oben stand, war alles, so weit nur mein Auge reichte, ebenso,
wie um mich her, alles war mit einem neblichten Dufte überzogen, der
Tag war grau und trübe, und keinen Baum, keine Wiese, selbst kein Gebüsch
konnte mein Auge erspähn, einzelne Sträucher ausgenommen, die
einsam und betrübt in engen Felsenritzen emporgeschossen waren. Es
ist unbeschreiblich, welche Sehnsucht ich empfand, nur eines Menschen ansichtig
zu werden, wäre es auch, daß ich mich vor ihm hätte fürchten
müssen. Zugleich fühlte ich einen peinigenden Hunger, ich setzte
mich nieder und beschloß zu sterben. Aber nach einiger Zeit trug die
Lust zu leben dennoch den Sieg davon, ich raffle mich auf und ging unter
Tränen, unter abgebrochenen Seufzern den ganzen Tag hindurch; am Ende
war ich mir meiner kaum noch bewußt, ich war müde und erschöpft,
ich wünschte kaum noch zu leben, und fürchtete doch den Tod.
Gegen Abend schien die Gegend umher etwas freundlicher zu werden, meine
Gedanken, meine Wünsche lebten wieder auf, die Lust zum Leben erwachte
in allen meinen Adern. Ich glaubte jetzt das Gesause einer Mühle aus
der Ferne zu hören, ich verdoppelte meine Schritte, und wie wohl, wie
leicht ward mir, als ich endlich wirklich die Grenzen der öden Felsen
erreichte; ich sah Wälder und Wiesen mit fernen angenehmen Bergen wieder
vor mir liegen. Mir war, als wenn ich aus der Hölle in ein Paradies
getreten wäre, die Einsamkeit und meine Hülflosigkeit schienen
mir nun gar nicht fürchterlich.
Statt der gehofften Mühle stieß ich auf einen Wasserfall, der
meine Freude freilich um vieles minderte; ich schöpfte mit der Hand
einen Trunk aus dem Bache, als mir plötzlich war, als höre ich
in einiger Entfernung ein leises Husten. Nie bin ich so angenehm überrascht
worden, als in diesem Augenblick, ich ging näher und ward an der Ecke
des Waldes eine alte Frau gewahr, die auszuruhen schien. Sie war fast ganz
schwarz gekleidet und eine schwarze Kappe bedeckte ihren Kopf und einen
großen Teil des Gesichtes, in der Hand hielt sie einen Krückenstock.
Ich näherte mich ihr und bat um ihre Hülfe; sie ließ mich
neben sich niedersitzen und gab mir Brot und etwas Wein. Indem ich aß,
sang sie mit kreischendem Ton ein geistliches Lied. Als sie geendet hatte,
sagte sie mir, ich möchte ihr folgen.
Ich war über diesen Antrag sehr erfreut, so wunderlich mir auch die
Stimme und das Wesen der Alten vorkam. Mit ihrem Krückenstocke ging
sie ziemlich behende, und bei jedem Schritte verzog sie ihr Gesicht so,
daß ich im Anfange darüber lachen mußte. Die wilden Felsen
traten immer weiter hinter uns zurück, wir gingen über eine angenehme
Wiese, und dann durch einen ziemlich langen Wald. Als wir heraustraten,
ging die Sonne gerade unter, und ich werde den Anblick und die Empfindung
dieses Abends nie vergessen. In das sanfteste Rot und Gold war alles verschmolzen,
die Bäume standen mit ihren Wipfeln in der Abendröte, und über
den Feldern lag der entzückende Schein, die Wälder und die Blätter
der Bäume standen still, der reine Himmel sah aus wie ein aufgeschlossenes
Paradies, und das Rieseln der Quellen und von Zeit zu Zeit das Flüstern
der Bäume tönte durch die heitre Stille wie in wehmütiger
Freude. Meine junge Seele bekam jetzt zuerst eine Ahndung von der Welt und
ihren Begebenheiten. Ich vergaß mich und meine Führerin, mein
Geist und meine Augen schwärmten nur zwischen den goldnen Wolken.
Wir stiegen nun einen Hügel hinan, der mit Birken bepflanzt war, von
oben sah man in ein grünes Tal voller Birken hinein und unten mitten
in den Bäumen lag eine kleine Hütte. Ein munteres Bellen kam uns
entgegen, und bald sprang ein kleiner behender Hund die Alte an, und wedelte,
dann kam er zu mir, besah mich von allen Seiten, und kehrte mit freundlichen
Gebärden zur Alten zurück.
Als wir vom Hügel heruntergingen, hörte ich einen wunderbaren
Gesang, der aus der Hütte zu kommen schien, wie von einem Vogel, es
sang also: -
,Waldeinsamkeit,
Die mich erfreut,
So morgen wie heut
In ewger Zeit,
O wie mich freut
Waldeinsamkeit.'
Diese wenigen Worte wurden beständig wiederholt; wenn ich es beschreiben
soll, so war es fast, als wenn Waldhorn und Schalmeie ganz in der Ferne
durcheinanderspielen.
Meine Neugier war außerordentlich gespannt; ohne daß ich auf
den Befehl der Alten wartete, trat ich mit in die Hütte. Die Dämmerung
war schon eingebrochen, alles war ordentlich aufgeräumt, einige Becher
standen auf einem Wandschranke, fremdartige Gefäße auf einem
Tische, in einem glänzenden Käfig hing ein Vogel am Fenster, und
er war es wirklich, der die Worte sang. Die Alte keichte und hustete, sie
schien sich gar nicht wieder erholen zu können, bald streichelte sie
den kleinen Hund, bald sprach sie mit dem Vogel, der ihr nur mit seinem
gewöhnlichen Liede Antwort gab; übrigens tat sie gar nicht, als
wenn ich zugegen wäre. Indem ich sie so betrachtete, überlief
mich mancher Schauer: denn ihr Gesicht war in einer ewigen Bewegung, indem
sie dazu wie vor Alter mit dem Kopfe schüttelte, so daß ich durchaus
nicht wissen konnte, wie ihr eigentliches Aussehn beschaffen war.
Als sie sich erholt hatte, zündete sie Licht an, deckte einen ganz
kleinen Tisch und trug das Abendessen auf. Jetzt sah sie sich nach mir um,
und hieß mir einen von den geflochtenen Rohrstühlen nehmen. So
saß ich ihr nun dicht gegenüber und das Licht stand zwischen
uns. Sie faltete ihre knöchernen Hände und betete laut, indem
sie ihre Gesichtsverzerrungen machte, so daß es mich beinahe wieder
zum Lachen gebracht hätte; aber ich nahm mich sehr in acht, um sie
nicht zu erbosen.
Nach dem Abendessen betete sie wieder, und dann wies sie mir in einer niedrigen
und engen Kammer ein Bett an; sie schlief in der Stube. Ich blieb nicht
lange munter, ich war halb betäubt, aber in der Nacht wachte ich einigemal
auf, und dann hörte ich die Alte husten und mit dem Hunde sprechen,
und den Vogel dazwischen, der im Traum zu sein schien, und immer nur einzelne
Worte von seinem Liede sang. Das machte mit den Birken, die vor dem Fenster
rauschten, und mit dem Gesang einer entfernten Nachtigall ein so wunderbares
Gemisch, daß es mir immer nicht war, als sei ich erwacht, sondern
als fiele ich nur in einen andern noch seltsamern Traum.
Am Morgen weckte mich die Alte, und wies mich bald nachher zur Arbeit an.
Ich mußte spinnen, und ich begriff es auch bald, dabei hatte ich noch
für den Hund und für den Vogel zu sorgen. Ich lernte mich schnell
in die Wirtschaft finden, und alle Gegenstände umher wurden mir bekannt;
nun war mir, als müßte alles so sein, ich dachte gar nicht mehr
daran, daß die Alte etwas Seltsames an sich habe, daß die Wohnung
abenteuerlich und von allen Menschen entfernt liege, und daß an dem
Vogel etwas Außerordentliches sei. Seine Schönheit fiel mir zwar
immer auf, denn seine Federn glänzten mit allen möglichen Farben,
das schönste Hellblau und das brennendste Rot wechselten an seinem
Halse und Leibe, und wenn er sang, blähte er sich stolz auf, so daß
sich seine Federn noch prächtiger zeigten.
Oft ging die Alte aus und kam erst am Abend zurück, ich ging ihr dann
mit dem Hunde entgegen, und sie nannte mich Kind und Tochter. Ich ward ihr
endlich von Herzen gut, wie sich unser Sinn denn an alles, besonders in
der Kindheit, gewöhnt. In den Abendstunden lehrte sie mich lesen, ich
fand mich leicht in die Kunst, und es ward nachher in meiner Einsamkeit
eine Quelle von unendlichem Vergnügen, denn sie hatte einige alte geschriebene
Bücher, die wunderbare Geschichten enthielten.
Die Erinnerung an meine damalige Lebensart ist mir noch bis jetzt immer
seltsam: von keinem menschlichen Geschöpfe besucht, nur in einem so
kleinen Familienzirkel einheimisch, denn der Hund und der Vogel machten
denselben Eindruck auf mich, den sonst nur längst gekannte Freunde
hervorbringen. Ich habe mich immer nicht wieder auf den seltsamen Namen
des Hundes besinnen können, sooft ich ihn auch damals nannte.
Vier Jahre hatte ich so mit der Alten gelebt, und ich mochte ohngefähr
zwölf Jahr alt sein, als sie mir endlich mehr vertraute, und mir ein
Geheimnis entdeckte. Der Vogel legte nämlich an jedem Tage ein Ei,
in dem sich eine Perl oder ein Edelstein befand. Ich hatte schon immer bemerkt,
daß sie heimlich in dem Käfige wirtschafte, mich aber nie genauer
darum bekümmert. Sie trug mir jetzt das Geschäft auf, in ihrer
Abwesenheit diese Eier zu nehmen und in den fremdartigen Gefäßen
wohl zu verwahren. Sie ließ mir meine Nahrung zurück, und blieb
nun länger aus, Wochen, Monate; mein Rädchen schnurrte, der Hund
bellte, der wunderbare Vogel sang und dabei war alles so still in der Gegend
umher, daß ich mich in der ganzen Zeit keines Sturmwindes, keines
Gewitters erinnere. Kein Mensch verirrte sich dorthin, kein Wild kam unserer
Behausung nahe, ich war zufrieden und arbeitete mich von einem Tage zum
andern hinüber. - Der Mensch wäre vielleicht recht glücklich,
wenn er so ungestört sein Leben bis ans Ende fortführen könnte.
Aus dem wenigen, was ich las, bildete ich mir ganz wunderliche Vorstellungen
von der Welt und den Menschen, alles war von mir und meiner Gesellschaft
hergenommen: wenn von lustigen Leuten die Rede war, konnte ich sie mir nicht
anders vorstellen wie den kleinen Spitz, prächtige Damen sahen immer
wie der Vogel aus, alle alte Frauen wie meine wunderliche Alte. Ich hatte
auch von Liebe etwas gelesen, und spielte nun in meiner Phantasie seltsame
Geschichten mit mir selber. Ich dachte mir den schönsten Ritter von
der Welt, ich schmückte ihn mit allen Vortrefflichkeiten aus, ohne
eigentlich zu wissen, wie er nun nach allen meinen Bemühungen aussah:
aber ich konnte ein rechtes Mitleid mit mir selber haben, wenn er mich nicht
wieder liebte; dann sagte ich lange rührende Reden in Gedanken her,
zuweilen auch wohl laut, um ihn nur zu gewinnen. - Ihr lächelt! wir
sind jetzt freilich alle über diese Zeit der Jugend hinüber.
Es war mir jetzt lieber, wenn ich allein war, denn alsdann war ich selbst
die Gebieterin im Hause. Der Hund liebte mich sehr und tat alles was ich
wollte, der Vogel antwortete mir in seinem Liede auf alle meine Fragen,
mein Rädchen drehte sich immer munter, und so fühlte ich im Grunde
nie einen Wunsch nach Veränderung. Wenn die Alte von ihren langen Wanderungen
zurückkam, lobte sie meine Aufmerksamkeit, sie sagte, daß ihre
Haushaltung, seit ich dazugehöre, weit ordentlicher geführt werde,
sie freute sich über mein Wachstum und mein gesundes Aussehn, kurz,
sie ging ganz mit mir wie mit einer Tochter um.
,Du bist brav, mein Kindl' sagte sie einst zu mir mit einem schnarrenden
Tone; ,wenn du so fortfährst, wird es dir auch immer gut gehn: aber
nie gedeiht es, wenn man von der rechten Bahn abweicht, die Strafe folgt
nach, wenn auch noch so spät.' - Indem sie das sagte, achtete ich eben
nicht sehr darauf, denn ich war in allen meinen Bewegungen und meinem ganzen
Wesen sehr lebhaft; aber in der Nacht fiel es mir wieder ein, und ich konnte
nicht begreifen, was sie damit hatte sagen wollen. Ich überlegte alle
Worte genau, ich hatte wohl von Reichtümern gelesen, und am Ende fiel
mir ein, daß ihre Perlen und Edelsteine wohl etwas Kostbares sein
könnten. Dieser Gedanke wurde mir bald noch deutlicher. Aber was konnte
sie mit der rechten Bahn meinen? Ganz konnte ich den Sinn ihrer Worte noch
immer nicht fassen.
Ich war jetzt vierzehn Jahr alt, und es ist an Unglück für den
Menschen, daß er seinen Verstand nur darum bekömmt, um die Unschuld
seiner Seele zu verlieren. Ich begriff nämlich wohl, daß es nur
auf mich ankomme, in der Abwesenheit der Alten den Vogel und die Kleinodien
zu nehmen, und damit die Welt, von der ich gelesen hatte, aufzusuchen. Zugleich
war es mir dann vielleicht möglich, den überaus schönen Ritter
anzutreffen, der mir immer noch im Gedächtnisse lag.
Im Anfange war dieser Gedanke nichts weiter als jeder andre Gedanke, aber
wenn ich so an meinem Rade saß, so kam er mir immer wider Willen zurück,
und ich verlor mich so in ihm, daß ich mich schon herrlich geschmückt
sah, und Ritter und Prinzen um mich her. Wenn ich mich so vergessen hatte,
konnte ich ordentlich betrübt werden, wenn ich wieder aufschaute, und
mich in der kleinen Wohnung antraf. Übrigens, wenn ich meine Geschäfte
tat, bekümmerte sich die Alte nicht weiter um mein Wesen.
An einem Tage ging meine Wirtin wieder fort, und sagte mir, daß sie
diesmal länger als gewöhnlich ausbleiben werde, ich solle ja auf
alles ordentlich achtgeben und mir die Zeit nicht lang werden lassen. Ich
nahm mit einer gewissen Bangigkeit von ihr Abschied, denn es war mir, als
würde ich sie nicht wiedersehn. Ich sah ihr lange nach und wußte
selbst nicht, warum ich so beängstigt war; es war fast, als wenn mein
Vorhaben schon vor mir stände, ohne mich dessen deutlich bewußt
zu sein.
Nie hab ich des Hundes und des Vogels mit einer solchen Emsigkeit gepflegt,
sie lagen mir näher am Herzen, als sonst. Die Alte war schon einige
Tage abwesend, als ich mit dem festen Vorsatze aufstand, mit dem Vogel die
Hütte zu verlassen, und die sogenannte Welt aufzusuchen. Es war mir
enge und bedrängt zu Sinne, ich wünschte wieder dazubleiben, und
doch war mir der Gedanke widerwärtig; es war ein seltsamer Kampf in
meiner Seele, wie ein Streiten von zwei widerspenstigen Geistern in mir.
In einem Augenblicke kam mir die ruhige Einsamkeit so schön vor, dann
entzückte mich wieder die Vorstellung einer neuen Welt, mit allen ihren
wunderbaren Mannigfaltigkeiten.
Ich wußte nicht, was ich aus mir selber machen sollte, der Hund sprang
mich unaufhörlich an, der Sonnenschein breitete sich munter über
die Felder aus, die grünen Birken funkelten: ich hatte die Empfindung,
als wenn ich etwas sehr Eiliges zu tun hätte, ich griff also den kleinen
Hund, band ihn in der Stube fest, und nahm dann den Käfig mit dem Vogel
unter den Arm. Der Hund krümmte sich und winselte über diese ungewohnte
Behandlung, er sah mich mit bittenden Augen an, aber ich fürchtete
mich, ihn mit mir zu nehmen. Noch nahm ich eins von den Gefäßen,
das mit Edelsteinen angefüllt war, und steckte es zu mir, die übrigen
ließ ich stehn.
Der Vogel drehte den Kopf auf eine wunderliche Weise, als ich mit ihm zur
Tür hinaustrat, der Hund strengte sich sehr an, mir nachzukommen, aber
er mußte zurückbleiben.
Ich vermied den Weg nach den wilden Felsen und ging nach der entgegengesetzten
Seite. Der Hund bellte und winselte immerfort, und es rührte mich recht
inniglich, der Vogel wollte einigemal zu singen anfangen, aber da er getragen
ward, mußte es ihm wohl unbequem fallen.
So wie ich weiter ging, hörte ich das Bellen immer schwächer,
und endlich hörte es ganz auf. Ich weinte und wäre beinahe wieder
umgekehrt, aber die Sucht etwas Neues zu sehn, trieb mich vorwärts.
Schon war ich über Berge und durch einige Wälder gekommen, als
es Abend ward, und ich in einem Dorfe einkehren mußte. Ich war sehr
blöde, als ich in die Schenke trat, man wies mir eine Stube und ein
Bette an, ich schlief ziemlich ruhig, nur daß ich von der Alten träumte,
die mir drohte.
Meine Reise war ziemlich einförmig, aber je weiter ich ging, je mehr
ängstigte mich die Vorstellung von der Alten und dem kleinen Hunde;
ich dachte daran, daß er wahrscheinlich ohne meine Hülfe verhungern
müsse, im Walde glaubt ich oft, die Alte würde mir plötzlich
entgegentreten. So legte ich unter Tränen und Seufzern den Weg zurück;
sooft ich ruhte, und den Käfig auf den Boden stellte, sang der Vogel
sein wunderliches Lied, und ich erinnerte mich dabei recht lebhaft des schönen
verlassenen Aufenthalts. Wie die menschliche Natur vergeßlich ist,
so glaubt ich jetzt, meine vormalige Reise in der Kindheit sei nicht so
trübselig gewesen als meine jetzige; ich wünschte wieder in derselben
Lage zu sein.
Ich hatte einige Edelsteine verkauft und kam nun nach einer Wanderschaft
von vielen Tagen in einem Dorfe an. Schon beim Eintritt ward mir wundersam
zumute, ich erschrak und wußte nicht worüber; aber bald erkannt
ich mich, denn es war dasselbe Dorf, in welchem ich geboren war. Wie ward
ich überrascht! Wie liefen mir vor Freuden, wegen tausend seltsamer
Erinnerungen, die Tränen von den Wangen! Vieles war verändert,
es waren neue Häuser entstanden, andre, die man damals erst errichtet
hatte, waren jetzt verfallen, ich traf auch Brandstellen; alles war weit
kleiner, gedrängter als ich erwartet hatte. Unendlich freute ich mich
darauf, meine Eltern nun nach so manchen Jahren wiederzusehn; ich fand das
kleine Haus, die wohlbekannte Schwelle, der Griff der Tür war noch
ganz so wie damals, es war mir, als hätte ich sie nur gestern angelehnt;
mein Herz klopfte ungestüm, ich öffnete sie hastig - aber ganz
fremde Gesichter saßen in der Stube umher und stierten mich an. Ich
fragte nach dem Schäfer Martin, und man sagte mir er sei schon seit
drei Jahren mit seiner Frau gestorben. - Ich trat schnell zurück, und
ging laut weinend aus dem Dorfe hinaus.
Ich hatte es mir so schön gedacht, sie mit meinem Reichtume zu überraschen;
durch den seltsamsten Zufall war das nun wirklich geworden, was ich in der
Kindheit immer nur träumte - und jetzt war alles umsonst, sie konnten
sich nicht mit mir freuen, und das, worauf ich am meisten immer im Leben
gehofft hatte, war für mich auf ewig verloren.
In einer angenehmen Stadt mietete ich mir ein kleines Haus mit einem Garten,
und nahm eine Aufwärterin zu mir. So wunderbar, als ich es vermutet
hatte, kam mir die Welt nicht vor, aber ich vergaß die Alte und meinen
ehemaligen Aufenthalt etwas mehr, und so lebt ich im ganzen recht zufrieden.
Der Vogel hatte schon seit lange nicht mehr gesungen; ich erschrak daher
nicht wenig, als er in einer Nacht plötzlich wieder anfing, und zwar
mit einem veränderten Liede. Er sang:
,Waldeinsamkeit
Wie liegst du weit!
O dich gereut
Einst mit der Zeit.-
Ach einzge Freud
Waldeinsamkeit!'
Ich konnte die Nacht hindurch nicht schlafen, alles fiel mir von neuem in
die Gedanken, und mehr als jemals fühlt ich, daß ich Unrecht
getan hatte. Als ich aufstand, war mir der Anblick des Vogels ordentlich
zuwider, er sah immer nach mir hin, und seine Gegenwart ängstigte mich.
Er hörte nun mit seinem Liede gar nicht wieder auf, und er sang es
lauter und schallender, als er es sonst gewohnt gewesen war. Je mehr ich
ihn betrachtete, je bänger machte er mich; ich öffnete endlich
den Käfig, steckte die Hand hinein und faßte seinen Hals, herzhaft
drückte ich die Finger zusammen, er sah mich bittend an, ich ließ
los, aber er war schon gestorben. - Ich begrub ihn im Garten.
Jetzt wandelte mich oft eine Furcht vor meiner Aufwärterin an, ich
dachte an mich selbst zurück, und glaubte, daß sie mich auch
einst berauben oder wohl gar ermorden könne. - Schon lange kannt ich
einen jungen Ritter, der mir überaus gefiel, ich gab ihm meine Hand
- und hiermit, Herr Walther, ist meine Geschichte geendigt."
"Ihr hättet sie damals sehn sollen", fiel Eckbert hastig
ein -"ihre Jugend, ihre Schönheit, und welch einen unbeschreiblichen
Reiz ihr ihre einsame Erziehung gegeben hatte. Sie kam mir vor wie ein Wunder,
und ich liebte sie ganz über alles Maß. Ich hatte kein Vermögen,
aber durch ihre Liebe kam ich in diesen Wohlstand, wir zogen hieher, und
unsere Verbindung hat uns bis jetzt noch keinen Augenblick gereut."
"Aber über unser Schwatzen", fing Bertha wieder an, "ist
es schon tief in die Nacht geworden - wir wollen uns schlafen legen."
Sie stand auf und ging nach ihrer Kammer. Walther wünschte ihr mit
einem Handkusse eine gute Nacht, und sagte: "Edle Frau, ich danke Euch,
ich kann mir Euch recht vorstellen, mit dem seltsamen Vogel, und wie Ihr
den kleinen Strohmian füttert."
Auch Walther legte sich schlafen, nur Eckbert ging noch unruhig im Saale
auf und ab. - "Ist der Mensch nicht ein Tor?" fing er endlich
an; "ich bin erst die Veranlassung, daß meine Frau ihre Geschichte
erzählt, und jetzt gereut mich diese Vertraulichkeit! - Wird er sie
nicht mißbrauchen? Wird er sie nicht andern mitteilen? Wird er nicht
vielleicht, denn das ist die Natur des Menschen, eine unselige Habsucht
nach unsern Edelgesteinen empfinden, und deswegen Plane anlegen und sich
verstellen?"
Es fiel ihm ein, daß Walther nicht so herzlich von ihm Abschied genommen
hatte, als es nach einer solchen Vertraulichkeit wohl natürlich gewesen
wäre. Wenn die Seele erst einmal zum Argwohn gespannt ist, so trifft
sie auch in allen Kleinigkeiten Bestätigungen an. Dann warf sich Eckbert
wieder sein unedles Mißtrauen gegen seinen wackern Freund vor, und
konnte doch nicht davon zurückkehren. Er schlug sich die ganze Nacht
mit diesen Vorstellungen herum, und schlief nur wenig.
Bertha war krank und konnte nicht zum Frühstück erscheinen; Walther
schien sich nicht viel darum zu kümmern, und verließ auch den
Ritter ziemlich gleichgültig. Eckbert konnte sein Betragen nicht begreifen;
er besuchte seine Gattin, sie lag in einer Fieberhitze und sagte, die Erzählung
in der Nacht müsse sie auf diese Art gespannt haben.
Seit diesem Abend besuchte Walther nur selten die Burg seines Freundes,
und wenn er auch kam, ging er nach einigen unbedeutenden Worten wieder weg.
Eckbert ward durch dieses Betragen im äußersten Grade gepeinigt;
er ließ sich zwar gegen Bertha und Walther nichts davon merken, aber
jeder mußte doch seine innerliche Unruhe an ihm gewahr werden.
Mit Berthas Krankheit ward es immer bedenklicher; der Arzt ward ängstlich,
die Röte von ihren Wangen war verschwunden und ihre Augen wurden immer
glühender. - An einem Morgen ließ sie ihren Mann an ihr Bette
rufen, die Mägde mußten sich entfernen.
"Lieber Mann", fing sie an, "ich muß dir etwas entdecken,
das mich fast um meinen Verstand gebracht hat, das meine Gesundheit zerrüttet,
so eine unbedeutende Kleinigkeit es auch an sich scheinen möchte. -
Du weißt, daß ich mich immer nicht sooft ich von meiner Kindheit
sprach, trotz aller angewandten Mühe auf den Namen des kleinen Hundes
besinnen konnte, mit welchem ich so lange umging; an jenem Abend sagte Walther
beim Abschiede plötzlich zu mir: ,Ich kann mir Euch recht vorstellen,
wie Ihr den kleinen Strohmian füttert.' Ist das Zufall? Hat
er den Namen erraten, weiß er ihn und hat er ihn mit Vorsatz genannt?
Und wie hängt dieser Mensch dann mit meinem Schicksale zusammen? Zuweilen
kämpfe ich mit mir als ob ich mir diese Seltsamkeit nur einbilde, aber
es ist gewiß, nur zu gewiß. Ein gewaltiges Entsetzen befiel
mich, als mir ein fremder Mensch so zu meinen Erinnerungen half. Was sagst
du, Eckbert?"
Eckbert sah seine leidende Gattin mit einem tiefen Gefühle an; er schwieg
und dachte bei sich nach, dann sagte er ihr einige tröstende Worte
und verließ sie. In einem abgelegenen Gemache ging er in unbeschreiblicher
Unruhe auf und ab. Walther war seit vielen Jahren sein einziger Umgang gewesen,
und doch war dieser Mensch jetzt der einzige in der Welt, dessen Dasein
ihn drückte und peinigte. Es schien ihm, als würde ihm froh und
leicht sein, wenn nur dieses einzige Wesen aus seinem Wege gerückt werden
könnte. Er nahm seine Armbrust, um sich zu zerstreuen und auf die Jagd
zu gehn.
Es war ein rauher stürmischer Wintertag, tiefer Schnee lag auf den
Bergen und bog die Zweige der Bäume nieder. Er streifte umher, der
Schweiß stand ihm auf der Stirne, er traf auf kein Wild, und das vermehrte
seinen Unmut. Plötzlich sah er sich etwas in der Ferne bewegen, es
war Walther, der Moos von den Bäumen sammelte; ohne zu wissen was er
tat, legte er an, Walther sah sich um, und drohte mit einer stummen Gebärde,
aber indem flog der Bolzen ab, und Walther stürzte nieder.
Eckbert fühlte sich leicht und beruhigt, und doch trieb ihn ein Schauder
nach seiner Burg zurück; er hatte einen großen Weg zu machen,
denn er war weit hinein in die Wälder verirrt. - Als er ankam, war
Bertha schon gestorben; sie hatte vor ihrem Tode noch viel von Walther und
der Alten gesprochen.
Eckbert lebte nun eine lange Zeit in der größten Einsamkeit;
er war schon sonst immer schwermütig gewesen, weil ihn die seltsame
Geschichte seiner Gattin beunruhigte, und er irgendeinen unglücklichen
Vorfall, der sich ereignen könnte, befürchtete: aber jetzt war
er ganz mit sich zerfallen. Die Ermordung seines Freundes stand ihm unaufhörlich
vor Augen, er lebte unter ewigen innern Vorwürfen.
Um sich zu zerstreuen, begab er sich zuweilen nach der nächsten großen
Stadt, wo er Gesellschaften und Feste besuchte. Er wünschte durch irgendeinen
Freund die Leere in seiner Seele auszufüllen, und wenn er dann wieder
an Walther zurückdachte, so erschrak er vor dem Gedanken, einen Freund
zu finden, denn er war überzeugt, daß er nur unglücklich
mit jedwedem Freunde sein könne. Er hatte so lange mit Bertha in einer
schönen Ruhe gelebt, die Freundschaft Walthers hatte ihn so manches
Jahr hindurch beglückt, und jetzt waren beide so plötzlich dahingerafft,
daß ihm sein Leben in manchen Augenblicken mehr wie ein seltsames
Märchen, als wie ein wirklicher Lebenslauf erschien.
Ein junger Ritter, Hugo, schloß sich an den stillen betrübten
Eckbert, und schien eine wahrhafte Zuneigung gegen ihn zu empfinden. Eckbert
fand sich auf eine wunderbare Art überrascht, er kam der Freundschaft
des Ritters um so schneller entgegen, je weniger er sie vermutet hatte.
Beide waren nun häufig beisammen, der Fremde erzeigte Eckbert alle
möglichen Gefälligkeiten, einer ritt fast nicht mehr ohne den
andern aus. In allen Gesellschaften trafen sie sich, kurz, sie schienen
unzertrennlich.
Eckbert war immer nur auf kurze Augenblicke froh, denn er fühlte es
deutlich, daß ihn Hugo nur aus einem Irrtume liebe; jener kannte ihn
nicht, wußte seine Geschichte nicht, und er fühlte wieder denselben
Drang, sich ihm ganz mitzuteilen, damit er versichert sein könne, ob
jener auch wahrhaft sein Freund sei. Dann hielten ihn wieder Bedenklichkeiten
und die Furcht, verabscheut zu werden, zurück. In manchen Stunden war
er so sehr von seiner Nichtswürdigkeit überzeugt, daß er
glaubte, kein Mensch, für den er nicht ein völliger Fremdling
sei, könne ihn seiner Achtung würdigen. Aber dennoch konnte er
sich nicht widerstehn; auf einem einsamen Spazierritte entdeckte er seinem
Freunde seine ganze Geschichte, und fragte ihn dann, ob er wohl einen Mörder
lieben könne. Hugo war gerührt, und suchte ihn zu trösten;
Eckbert folgte ihm mit leichterm Herzen zur Stadt.
Es schien aber seine Verdammnis zu sein, gerade in der Stunde des Vertrauens
Argwohn zu schöpfen, denn kaum waren sie in den Saal getreten, als
ihm beim Schein der vielen Lichter die Mienen seines Freundes nicht gefielen.
Er glaubte ein hämisches Lächeln zu bemerken, es fiel ihm auf,
daß er nur wenig mit ihm spreche, daß er mit den Anwesenden
viel rede, und seiner gar nicht zu achten scheine. Ein alter Ritter war
in der Gesellschaft, der sich immer als den Gegner Eckberts gezeigt, und
sich oft nach seinem Reichtum und seiner Frau auf eine eigne Weise erkundigt
hatte; zu diesem gesellte sich Hugo, und beide sprachen eine Zeitlang heimlich,
indem sie nach Eckbert hindeuteten. Dieser sah jetzt seinen Argwohn bestätigt,
er glaubte sich verraten, und eine schreckliche Wut bemeisterte sich seiner.
Indem er noch immer hinstarrte, sah er plötzlich Walthers Gesicht,
alle seine Mienen, die ganze, ihm so wohlbekannte Gestalt, er sah noch immer
hin und ward überzeugt, daß niemand als Walther mit dem Alten
spreche. - Sein Entsetzen war unbeschreiblich; außer sich stürzte
er hinaus, verließ noch in der Nacht die Stadt, und kehrte nach vielen
Irrwegen auf seine Burg zurück.
Wie ein unruhiger Geist eilte er jetzt von Gemach zu Gemach, kein Gedanke
hielt ihm stand, er verfiel von entsetzlichen Vorstellungen auf noch entsetzlichere,
und kein Schlaf kam in seine Augen. Oft dachte er, daß er wahnsinnig
sei, und sich nur selber durch seine Einbildung alles erschaffe; dann erinnerte
er sich wieder der Züge Walthers, und alles ward ihm immer mehr ein
Rätsel. Er beschloß eine Reise zu machen, um seine Vorstellungen
wieder zu ordnen; den Gedanken an Freundschaft, den Wunsch nach Umgang hatte
er nun auf ewig aufgegeben.
Er zog fort, ohne sich einen bestimmten Weg vorzusetzen, ja er betrachtete
die Gegenden nur wenig, die vor ihm lagen. Als er im stärksten Trabe
seines Pferdes einige Tage so fortgeeilt war, sah er sich plötzlich
in einem Gewinde von Felsen verirrt, in denen sich nirgend ein Ausweg entdecken
ließ. Endlich traf er auf einen alten Bauer, der ihm einen Pfad, einem
Wasserfall vorüber, zeigte: er wollte ihm zur Danksagung einige Münzen
geben, der Bauer aber schlug sie aus. - "Was gilt's", sagte Eckbert
zu sich selber, "ich könnte mir wieder einbilden, daß dies
niemand anders als Walther sei." - Und indem sah er sich noch einmal
um, und es war niemand anders als Walther. - Eckbert spornte sein Roß
so schnell es nur laufen konnte, durch Wiesen und Wälder, bis es erschöpft
unter ihm zusammenstürzte. - Unbekümmert darüber setzte er
nun seine Reise zu Fuß fort.
Er stieg träumend einen Hügel hinan; es war, als wenn er ein nahes
munteres Bellen vernahm, Birken säuselten dazwischen, und er hörte
mit wunderlichen Tönen ein Lied singen:
"Waldeinsamkeit
Mich wieder freut,
Mir geschieht kein Leid,
Hier wohnt kein Neid,
Von neuem mich freut
Waldeinsamkeit. "
Jetzt war es um das Bewußtsein, um die Sinne Eckberts geschehn; er
konnte sich nicht aus dem Rätsel herausfinden, ob er jetzt träume,
oder ehemals von einem Weibe Bertha geträumt habe; das Wunderbarste
vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert,
und er keines Gedankens, keiner Erinnerung mächtig.
Eine krummgebückte Alte schlich hustend mit einer Krücke den Hügel
heran. "Bringst du mir meinen Vogel? Meine Perlen? Meinen Hund?"
schrie sie ihm entgegen. "Siehe, das Unrecht bestraft sich selbst:
Niemand als ich war dein Freund Walther, dein Hugo."
"Gott im Himmel!" sagte Eckbert stille vor sich hin - "in
welcher entsetzlichen Einsamkeit hab ich dann mein Leben hingebracht !"
"Und Bertha war deine Schwester."
Eckbert fiel zu Boden.
"Warum verließ sie mich tückisch? Sonst hätte sich
alles gut und schön geendet, ihre Probezeit war ja schon vorüber.
Sie war die Tochter eines Ritters, die er bei einem Hirten erziehn ließ,
die Tochter deines Vaters."
"Warum hab ich diesen schrecklichen Gedanken immer geahndet?"
rief Eckbert aus.
"Weil du in früher Jugend deinen Vater einst davon erzählen
hörtest; er durfte seiner Frau wegen diese Tochter nicht bei sich erziehn
lassen, denn sie war von einem andern Weibe."
Eckbert lag wahnsinnig und verscheidend auf dem Boden; dumpf und verworren
hörte er die Alte sprechen, den Hund bellen, und den Vogel sein Lied
wiederholen.